Artikel • 28/11/2024

Überbrückungshilfe: Umgehung der Meldepflicht oder legitime Unterstützung in einer Notlage?

Kritiker:innen werfen der Stadt Bern vor, mit dem Projekt der Überbrückungshilfe die Meldepflichten gemäss Art. 97 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) in Verbindung mit Art. 82 b der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE) zu umgehen. Sie argumentieren dabei, dass es sich bei der Überbrückungshilfe um Sozialhilfe handle und der Bezug dieser Unterstützung deshalb dem zuständigen Migrationsdienst gemeldet werden müsse. Handelt es sich bei dieser niederschwelligen Hilfe der Stadt Bern tatsächlich um Sozialhilfe oder ist sie nicht vielmehr eine Form der Nothilfe? Hat ein Gemeinwesen nicht auch die Pflicht ein soziales Netz zu bieten, das von den Notleidenden angstfrei aufgesucht werden kann, ohne dass Nachteile befürchtet werden müssen?

Karin Jenni, Bulletin Nr. 26 11/2024

Das städtische Projekt der Überbrückungshilfe ist aufgrund einer Beschwerde seit Februar 2024 blockiert (LINK EINFÜGEN). Das Regierungsstatthalteramt kam dabei zum
Schluss, dass es sich bei der Überbrückungshilfe um Sozialhilfe handle und dass die Ausrichtung der Überbrückungshilfe durch die Stadt Bern widerrechtlich sei. Die Stadt Bern zog diesen Entscheid weiter, weshalb die Frage aktuell vor dem Verwaltungsgericht des Kantons diskutiert wird. Es ist zu hoffen, dass das Verwaltungsgericht zu einem anderen Entscheid gelangen wird, denn ob es sich bei der Überbrückungshilfe um Sozialhilfe handelt, kann unterschiedlich eingeschätzt werden.

Überbrückungshilfe als Sozialhilfe?

Sowohl die Sozialhilfe als auch die Überbrückungshilfe haben zum Ziel die Armut zu bekämpfen und ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten. In der Praxis der beiden Hilfsangebote sind jedoch zahlreiche relevante Unterschiede festzustellen. So sind die Unterstützungshilfen bei der Überbrückungshilfe zeitlich befristet. Dieser Überbrückungscharakter ist zentral. Auch wenn die Notlage nach sechs Monaten bestehen bleibt, kann in der Regel keine Überbrückungshilfe mehr geleistet werden und es müssen andere Lösungen gefunden werden. Auch in der Höhe besteht bei der Überbrückungshilfe eine klare Obergrenze. bei der Sozialhilfe besteht ein monatlicher Richtwert, aber keine Obergrenze in Bezug auf Dauer oder Höhe. Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht im Anspruch. Bei der Überbrückungshilfe besteht kein Anspruch auf Unterstützung, wie dies bei der Sozialhilfe klar festgehalten ist. Zudem besteht eine Karenzfrist, in dem Sinne, dass die Person bzw. Familie mindestens während zwei Jahren in der Stadt Bern wohnhaft sein muss. Die Ausrichtung der Überbrückungshilfe wird anders als die Sozialhilfe über eine unabhängige Stelle getätigt und es handelt sich dabei quasi um eine Schenkung, die nicht rückerstattet werden muss. Die Hilfsgelder erfolgen punktuell und nicht wie bei der Sozialhilfe in einer Regelmässigkeit. Es erfolgen auch keine Barauszahlungen oder Überweisungen an die Unterstützungsbedürftigen, sondern es werden nur direkt Rechnungen betreffend Wohn- und Gesundheitskosten bezahlt oder Gutscheine für Lebensmittel und Kleidung abgegeben. Betrachtet man diese Unterschiede, ist die Überbrückungshilfe von der Sozialhilfe klar abgrenzbar und kann näher bei der Nothilfe als bei der Sozialhilfe verordnet werden. Gerade hinsichtlich der Entwicklung, dass die Sozialhilfe in den letzten Jahren vermehrt als Steuerungsinstrument der Migrationspolitik statt als Sicherung des Existenzminimums eingesetzt wurde, ist die Überbrückungshilfe vielmehr als sinnvolle Ergänzung zu betrachten, die dazu verhilft, dem Recht auf Hilfe in einer Notlage gerecht zu werden

Das Recht auf Hilfe in einer Notlage

Das Recht auf Hilfe in einer Notlage ist in Art. 12 der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) festgeschrieben (siehe Kasten) und beschränkt sich auf die elementaren Grundbedürfnisse wie Ernährung, Kleidung und Obdach. Dieses Grundrecht ist gemäss Rechtsprechung nicht einschränkbar, da es in engem Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenwürde nach Art. 7 BV steht, wonach die Würde des Menschen zu achten und zu sichern sei. Wenn nun eine Meldepflicht Personen davon abhält vom Recht auf Hilfe in einer Notlage Gebrauch zu machen, ist dies als eine Einschränkung anzusehen, weshalb man zum Schluss kommen kann, dass eine Meldung das Grundrecht auf Hilfe in Notlagen verletzt. Wohl auch deshalb ist die Meldepflicht beim Bezug von Nothilfe nicht festgeschrieben, wie dies bei der Sozialhilfe der Fall ist.

Wenn nun also, wie oben erläutert, davon ausgegangen wird, dass sich die Überbrückungshilfe auf Art.12 BV bezieht und im Bereich der Nothilfe anzusiedeln ist, stellt jeder Eingriff in dieses Grundrecht eine eigentliche Verletzung dar. Würde der Bezug von Überbrückungshilfe einer Meldepflicht unterliegen, könnte der Staat seiner Aufgabe, die Würde des Menschen zu schützen und zu achten (Art. 7 BV) und Personen in einer Notlage mit einem Minimum zu unterstützen (Art. 12 BV) nicht gerecht werden. Dies besagt zumindest die Theorie, wobei in der Praxis die Migrationsbehörden beim Bezug von Nothilfe in der Regel informiert werden und deshalb Personen, die in keiner Weise den Behörden bekannt werden möchten, in der Folge auch keine Nothilfe beantragen.

Verhältnismässigkeit der Meldungen

Sollte entgegen der oben vertretenen Ansicht, das Verwaltungsgericht ähnlich wie das Regierungsstatthalteramt zum Schluss kommen, dass es sich bei der Überbrückungshilfe um Sozialhilfe handelt, wäre es zumindest nötig, die Meldung bei solch punktuellen Unterstützungsbeiträgen einer Verhältnismässigkeitsprüfung zu unterziehen. Dabei ist insbesondere das Recht auf Privatsphäre in Betracht zu ziehen und gegenüber dem Interesse des Staates an einer Meldung abzuwägen. Spätestens bei dieser Prüfung sollte sich zeigen, dass es nicht verhältnismässig ist, wenn der Bezug eines Lebensmittelgutscheines von 50 Franken gemeldet werden muss. Selbst beim maximal möglichen Betrag von 5000 Franken für ein Paar (plus allenfalls je 500 Franken pro Kind) erscheint eine Meldung als ein unverhältnismässiger Eingriff in die Privatsphäre, ist die Unterstützung doch lediglich punktuell und zeitlich begrenzt.

Das Gebot der Menschlichkeit

Die Stadt Bern hat angesichts der vorherrschenden Armut eine Analyse vorgenommen und ist zum Schluss gekommen, dass verschiedene Zielgruppen mit den klassischen Unterstützungshilfen nicht abgesichert sind. Einerseits weil sie aus Angst, dass ihnen aufenthaltsrechtliche Nachteile daraus erfolgen, keine Sozialhilfe beziehen, oder weil sie aus Angst, dass ihr Aufenthalt auffliegt, keine Nothilfe beantragen. Die Stadt Bern kommt mit dem Projekt der Überbrückungshilfe ihrer Verpflichtung gegenüber den Bewohner:innen ihrer Gemeinde nach und stellt der Armut ein Unterstützungsprojekt entgegen, mit welchem die Not gelindert werden kann. Es bleibt also zu hoffen, dass das Verwaltungsgericht anders als das Regierungsstatthalteramt entscheiden wird, damit auch in Zukunft Projekte verwirklicht werden können, die zum Ziel haben, allen ein menschenwürdiges Dasein zu sichern. Damit es allerdings gar nicht erst nötig wird, zusätzlich zur Sozialhilfe und Nothilfe weitere Unterstützungshilfen zu schaffen, ist es nötig, dass einerseits der Bezug von Nothilfe ohne ausländerrechtliche Folgen bleibt und gar nicht gemeldet wird, da jede Meldung einer unzulässigen Grundrechtseinschränkung gleichkommt. Andererseits sollten die Meldepflichten bei der Sozialhilfe grundsätzlich überprüft werden, da sich zeigt, dass viele Armutsbetroffene aus Angst vor ausländerrechtlichen Nachteilen keine Sozialhilfe beantragen und ihnen deshalb ein menschenwürdiges Leben verwehrt bleibt.

DAS RECHT AUF HILFE IN EINER NOTLAGE / NOTHILFE

Art. 12 BV garantiert das Recht auf Hilfe in Notlagen. Das heisst, wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Anspruch auf diese Mittel hat, wer sich in einer Notlage befindet – unabhängig von der Aufenthaltsbewilligung und unabhängig davon, weshalb die Notlage eingetreten ist. Bei abgewiesenen Asylsuchenden sind die Kantone, die für die Wegweisung zuständig sind, oder die Zuweisungskantone, verantwortlich für die Ausrichtung dieser sogenannten Nothilfe. Dafür finden sich spezielle Bestimmungen in Art. 82 des Asylgesetzes. Die Ausgestaltung der Nothilfe regelt das jeweilige kantonale Recht. Auch Personen ohne Aufenthaltsbewilligung, die nie ein Asylgesuch gestellt haben und den Behörden nicht bekannt sind, haben grundsätzlich Anrecht auf Hilfe in einer Notlage. Die Zuständigkeiten sind dabei im Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (Zuständigkeitsgesetz, ZUG) festgeschrieben und die Details dazu finden sich in den jeweiligen kantonalen Gesetzen. Im Kanton Bern ist dabei das Gesetz über die öffentliche Sozialhilfe (Sozialhilfegesetz, SHG) relevant. In Art. 23 ist dabei festgeschrieben, dass jede bedürftige Person Anspruch auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe hat. Für die Ausrichtung dieser Hilfe ist der Sozialdienst der jeweiligen Gemeinde zuständig. In der Regel führt der Bezug dieser Hilfe jedoch zu einer Meldung an die zuständige Migrationsbehörde, weshalb die allermeisten Sans-Papiers von diesem Recht nicht Gebrauch machen.