Das Nothilferegime und die Rechte des Kindes
2020 gab die Eidgenössische Migrationskommission (EKM) eine Studie beim Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI) in Auftrag, um die Situation für ausreisepflichtige Kinder und Jugendliche zu erfassen, die in der Schweiz in der Nothilfe leben. Ergänzend wurde im April 2024 ein Rechtsgutachten eingeholt. Die Ergebnisse wurden im September 2024 veröffentlicht. Die Studie und das Rechtsgutachten kommen zum Schluss, dass die bestehende Praxis zum Wohl der Kinder angepasst werden muss. Auch um die Bestimmungen der Bundesverfassung und die menschenrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Einige der zentralen Ergebnisse und die resultierenden Empfehlungen werden hier wiedergegeben.
Léonie Reichenecker, Bulletin Nr. 26 11/2024
Grundzüge der Nothilfe im Asylbereich
In den letzten 20 Jahren haben mehrere Reformen zum Ausschluss bestimmter Personengruppen von der Sozialhilfe geführt. So erhalten Personen mit einem Nichteintretensentscheid seit 2004 und Personen mit einem negativen Asylentscheid seit 2008 nur noch Nothilfe. Diese ist unter dem Ansatz der Sozialhilfe und beschränkt sich auf ein absolutes Minimum. Zudem gilt ein Arbeitsverbot und Beschäftigungs- und Integrationsprogramme sind ausgeschlossen. Das erklärte Ziel dieses sogenannten Nothilferegimes ist es, keine Anreize für einen Verbleib zu schaffen und die Personen möglichst zur «freiwilligen Ausreise» zu bewegen. Ursprünglich als Hilfe für kurze Zeit vorgesehen, hat sich gezeigt, dass in der Realität viele Einzelpersonen und auch Familien über Jahre in der Nothilfe verbleiben.
Kinder und Jugendliche in der Nothilfe
In den Jahren 2008 bis Ende 2020 lebten jährlich zwischen 239 und 1399 Kinder und Jugendliche in der Nothilfe. Im Jahr 2020, dem letzten erhobenen Jahr in der Studie, waren es 685. Über 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen befinden sich im Langzeitbezug von über einem Jahr. Die längste bisherige Aufenthaltsdauer, die 2020 erhoben wurde, betrug fast elf Jahre. Die meisten Kinder und Jugendlichen haben vor und während der Flucht Belastendes und Traumatisches erlebt. Das bestehende Nothilferegime setzt die Kinder weiteren Belastungen aus. Die meisten Familien sind in sogenannten Rückkehrzentren untergebracht. Die Räumlichkeiten sind beengt. Eine Familie mit durchschnittlich fünf Personen hat in der Regel ein Zimmer zur Verfügung. Besonders für Jugendliche fehlt es dabei an Möglichkeiten, sich zurückzuziehen. Die Studie berichtet, dass Kinder und Jugendliche Polizeieinsätze, Zwangsausschaffungen, Gewalt zwischen Bewohnenden, häusliche Gewalt und Suizidversuche miterleben müssen. Oft haben die Kinder mehrmals die Unterkunft und die Schule gewechselt. Dies erschwert stabile soziale Beziehungen, welche für die kindliche Entwicklung grundlegend sind. Viele Unterkünfte liegen abgelegen. Es ist schwer möglich, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten – zumal das Geld für den öffentlichen Verkehr fehlt. Die Kinder werden teils in den Unterkünften unterrichtet, was die soziale Isolation weiter verschärft. Frühkindliche Angebote wie der Spielgruppenbesuch sind nur selten möglich. Dies kann zur Unterstimulation der Kinder in einer wichtigen Entwicklungsphase führen. Für Jugendliche enden in der Regel nach dem 9. Schuljahr die weiteren Bildungsmöglichkeiten. Eine Lehre oder eine Ausbildung ist meistens nicht möglich. Nur in einzelnen Fällen konnten Jugendliche ein zehntes Schuljahr oder das Gymnasium besuchen. Jugendlichen fehlen so weitere Entwicklungsmöglichkeiten und Perspektiven wie oftmals auch geregelte Tagesstrukturen.
Angesichts der grossen Vulnerabilität der Kinder und Jugendlichen und der oft vorhandenen psychischen Belastungen kritisiert die Studie den schwierigen Zugang zur psychologischen und psychiatrischen Versorgung. Dies gilt auch für die Versorgung der Eltern. Fachkräfte betonen zudem, dass nachhaltige Behandlungserfolge eine grundlegende Veränderung der vorhandenen Strukturen erfordern. Die Belastungen der Eltern wirken sich allgemein auf die Kinder aus. Die Verfasser:innen der Studie halten zudem fest, dass der Langzeitbezug von Nothilfe kritisch zu sehen ist. Dies insbesondere auch, weil bereits ein Jahr für Kinder sehr lange ist und sie in dieser Zeit wichtige Entwicklungsschritte durchlaufen. Zusammenfassend stellen sie fest: «Die Kombination von beengten Wohnverhältnissen, Gewalt und Armut zusammen mit der psychischen Belastung ist ein erheblicher Risikofaktor für die kindliche Entwicklung.»
Handlungsempfehlungen
Die Studie beschreibt die hohen Mehrfachbelastungen und die sehr prekäre Situation, der Kinder und Jugendliche in der Nothilfe ausgesetzt sind. Das Rechtsgutachten zeigt, dass die bisherige Praxis sowohl gegen Verfassungsbestimmungen als auch gegen völkerrechtliche Verpflichtungen wie die Kinderrechtskonvention verstösst. Deutlich wird, dass wenn ein menschenwürdiges Dasein gewährleistet werden soll, die Nothilfe über die reine materielle Hilfe hinausgehen muss, und Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung und sozialen Teilhabe zu berücksichtigen sind. Aus diesen Gründen empfiehlt das Rechtsgutachten unter anderem:
- Die Beurteilung des Kindeswohls von Amts wegen durch Artikel 96 AIG (Ermessensausübung) festzuschreiben, um den Ermessensspielraum zu Gunsten der Kinder zu nutzen.
- Unter bestimmten Bedingungen Kindern und Jugendlichen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht einzuräumen, damit sie nicht lediglich als Anhängsel ihrer Eltern betrachtet werden.
- Kinder nach zwei Jahren in die Asylsozialhilfe zu überführen.
- Für alle nothilfebeziehenden Kinder den Schulbesuch im regulären Bildungssystem zu ermöglichen – einschliesslich der pädagogischen Unterstützungs- und Begleitangebote.
- Ein nationales sozialpädagogisches Konzept für alle Nothilfestrukturen zu entwickeln, das den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen Rechnung trägt.
- Die soziale Teilhabe der Kinder und Jugendlichen zu fördern. Dies bedingt auch, auf abgelegene Standorte zu verzichten.
- Den Zugang zu einer Arbeitsbewilligung und die Regularisierung des Aufenthaltes nach zwei Jahren in der Nothilfe möglich zu machen.
- Das Recht, sich beruflich zu bilden, zu gewährleisten, indem der kürzlich gelockerte Artikel 30a der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit VZAE zugunsten der Jugendlichen ausgelegt wird.
- Zahnärztliche Leistungen sowie die psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlungen in die Versicherungsdeckung aufzunehmen.
- Behörden und Mitarbeitende auf die Vorgaben der Kinderrechtskonvention zu sensibilisieren und sie in die Umsetzung der Vorgaben einzubeziehen.
Das Rechtsgutachten und die Handlungsempfehlungen machen deutlich, dass die vorherrschende Situation nicht länger ignoriert werden darf. Einerseits müssen die entsprechenden Gesetze zugunsten der Kinder angepasst werden und andererseits werden die involvierten Behörden angehalten, den vorhandenen Spielraum zugunsten der Kinder unbedingt zu nutzen.
Die Studie und das Rechtsgutachten können nachgelesen werder unter: https://www.ekm.admin.ch.
Familien in der Nothilfe im Kanton Bern
Für die Ausrichtung der Nothilfe gilt kantonales Recht, wobei die Ausgestaltung von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich ist. Die Unterstützung im Kanton Bern beträgt 10 Franken pro Tag. Die Beträge verringern sich pro Person jedoch bei einer Familiengrösse ab drei Personen um CHF 0.50 pro weitere Person. Ab acht Personen erhält jede weitere Person CHF 4.00. Familien wohnen in separaten Rückkehrzentren. Es handelt sich um die Rückkehrzentren Aarwangen (180 Plätze), Enggistein (100 Plätze) und Bellelay (30 Plätze). Die Unterkünfte werden von der ORS Service AG betrieben. Die Rückkehrzentren liegen abgelegen und die Räumlichkeiten sind eng. Auch die Spielmöglichkeiten sind oftmals eingeschränkt. Der Kanton Bern kennt als einziger Kanton die Möglichkeit der privaten Unterbringung abgewiesener Asylsuchender, jedoch nur unter bestimmten Bedingungen. In diesem Fall wird ein Vertrag mit den Gastgeber:innen geschlossen. Im Kanton Bern besuchen Kinder standardmässig Regelklassen. Für weiterführende Schulen wie beispielsweise das Gymnasium wird an sich keine Aufenthaltsbewilligung benötigt. Jedoch ist – anders als für den Grundschulunterricht – der Anspruch auf weiterführende Bildung nicht unbestritten. Möchten Jugendliche eine Lehrstelle antreten, ist eine Aufenthaltsbewilligung nötig. Die dafür in Art. 30a VZAE vorhandene Lehrstellenregelung wurde kürzlich soweit gelockert, dass statt der bisherigen fünf Schuljahre nur noch zwei Schuljahre nötig sind. Allerdings sind alle anderen Voraussetzungen, wie bspw. die Voraussetzung von mindestens fünf Jahren Anwesenheit, nach wie vor sehr hoch.
Weiterführende Informationen finden Sie in der Fachinfo «Nothilfe im Asylbereich» der Kirchlichen Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen (Stand März 2024).